Gern, wer mir eine E-Mail an "namedesblogs"@gmail.com schickt, bekommt das Buch als PDF gratis.
Hi Leute,
die Community hier und die auf Reddit (irgendwie ist das für mich noch dasselbe) haben mich über das letzte Jahr ermutigt, einen kleinen Kurzroman zu schreiben.
Ich wollte euch eine kleine Leseprobe hier lassen. Wer mehr lesen möchte, kann mir einfach eine E-Mail schreiben und bekommt es umsonst, die Kindle- und Taschenbuchversion sind aber auch auf Amazon zu erhalten.
Wünsche frohes Lesen und danke nochmal für all die erbaulichen Kommentare! :) ____
Nach drei Tagen starken Regens war das Bächlein hinter meinem Haus zu einem richtigen Fluss geworden und am frühen Abend kam die Feuerwehr vorbei und warnte uns, dass wir unsere Autos etwas höher stellen sollten. Also stellte stellte ich mein Auto am Bahnhof des idyllischen Örtchens ab, überlegte kurz, ob ich einfach direkt zu meiner Freundin fahre, wer weiß ob ich morgen noch von hier zur Arbeit komme. Aber ich entschied mich, zu Hause zu bleiben. [...]
Ich gehe wieder rein, setze mich auf meinen Balkon, der Regen noch immer stark auf die Überdachung plätschernd, und sehe der Straße zu, wie sie sich langsam mit Wasser füllt. Ich nehme ein Video auf, teile es mit meinem Chef und sag ihm, dass ich morgen wohl Home Office machen muss. “Mach mal halblang” schreibt er nur, solange dem Auto nichts passiert könne ich ja ins Büro kommen, und in dem Moment wird ein Auto am Haus vorbei gespült, so tief ist schon das Wasser. Der Strom ist auch längst weg, und Internet haben wir nur noch sporadisch. Dann klopft es an meiner Tür, Herr und Frau K, ob ich runter in die Weinstube kommen könnte, um das Piano aufzubocken, vielleicht könne man es noch retten. Stiefel habe ich keine, aber es ist warm, und so stört es kaum, dass wir knietief im Wasser stehen, während wir versuchen, das massive Piano auf zwei Bastkörbe zu hieven.
Der Versuch dauert gefühlt ewig, das alte Klavier wiegt eine Tonne und die Körbe sind wackelig, kaum höher als der Wasserstand, und mir kommt die ganze Aktion sinnlos bis lebensgefährlich vor. Dann spült das Wasser die Fensterscheiben raus, und ein Auto, oder ein Öltank, irgendwas großes, wird mit einem lauten RUMMS außen vor die Wand geworfen. Mein Puls geht hoch, aber ich will mir nichts anmerken lassen. Frau K leuchtet uns weiter, der Bastkorb gibt nach, und ich sag “wir müssen hier raus, das bringt nichts”. Aber die beiden sehen so traurig aus und für einen Moment wird mir klar, dass sie gerade verlieren, was sie über ein halbes Jahrhundert aufgebaut haben. “Na gut, einen Versuch noch.” Vergebens.
Eine halbe Stunde später, wir stehen auf dem Balkon meiner Wohnung im ersten Stock, das Erdgeschoss geflutet, das Piano weg. Dann hören wir ein ängstliches Maunzen; auf einem Balken, der die Abdeckung des Balkons hält, sitzt ein dicker orangener Kater, völlig verängstigt, denn auch seine Welt geht gerade unter, und irgendwie schaffen wir es, ihn in meine Küche zu bekommen, in Sicherheit.
Irgendwann steht mir auch in meiner Wohnung das Wasser bis zum Knöchel, dann klopft es wieder, Frau P, aus dem Altbau, der eine Etage höher liegt, lädt mich ein. Ich setze meinen Rucksack auf, packe meine Gitarre, und gehe hoch. Es dämmert, und die Stromleitungen sind seit Stunden weg, aber oben, in Frau Ps Wohnung, brennen überall Kerzen und Teelichter. Dann sitzen wir am Küchentisch, lauschen der Flut, die ohrenbetäubend und nach Öl stinkend das Haus von allen Seiten verschlingt. Ich sehe einen abgedeckten Vogelkäfig und will kurz vorschlagen, den Vogel doch fliegen zu lassen. Dann wird mir klar, was das impliziert, nämlich dass das Haus bald nachgibt, und wir dann alle tot sind, aber immerhin lebt der Vogel.
[...] Frau K. ist bemüht die Stimmung aufzuhellen, und für eine Weile reden wir, damit niemand Zeit hat nachzudenken, dem Regen und der Flut lauschend, und immer wenn ein Öltank oder ein Baum oder ein Wohnwagen vom Wasser vor die Wände geworfen wird schweigen wir besonders laut, denn jeder denkt und niemand sagt, dass das Haus das nicht lange mitmacht.
Dann wird aus der Angst plötzlich Panik, das angrenzende Nachbarhaus stürzt ein, und mit ihm jede Hoffnung, dass wir einigermaßen sicher sind, und dann, meine Fresse, ein riesiger Riss in der Küchenwand, und plötzlich kann man rausgucken, in die Nacht. Runter, sofort. Die Frauen vorweg, wir direkt hinterher, durch den stockdunklen Hausflur, einfach runter. Unten bricht Herr K eine Tür ein, zur Wohnung unter uns, und der Horror ist vollständig, denn als sich die Tür öffnet offenbart sich, dass der Boden längst weggerissen ist, dass der ganze Altbau unterspült wurde, dass uns nur Sekunden bleiben, bis zwei Stockwerke aus Holz und Ziegeln über uns einstürzen. [...]
bis ein Besserwissi erzählt, dass es mit FDH (oder was auch immer) und regelmäßigen Besuch im Fitti auch funktioniert.
Also dass es keinen Körper geben kann, der funktioniert, ohne dass man Kalorien verbrennt, dürfte ja unstrittig sein. Also ist ja das Rezept "weniger Essen als man braucht" voll legitim und das wirst du auch nicht in Abrede stellen. Also ist Übergewicht ja zwangsläufig eine Verhaltenssache. Und Verhalten ändern ist halt schwer, besonders wenn es zwei Mega-Industrien (Pharma und "Lebensmittel") gibt, die besonders daran interessiert sind, dass wir unmündige Konsummaschinen bleiben.
Wenn ich also eine Spritze nehme und plötzlich einen BMI von 20 habe, habe ich ja dennoch das gestörte Verhalten (zu viel Essen, zu wenig Bewegung) nicht geändert. Um die Industrien zu verbessern braucht es große, systemische Veränderungen, aber auf der Stufe des Individuums ist man besser dran beraten, die Ursachen der Fettheit zu bekämpfen. Dass das immer nur Völlerei und Faulheit sind will ich nicht sagen, sicher spielen Depressionen und Unzufriedenheit, ungesunde Coping-Mechanismen und Zuckersucht eine größere Rolle als viele glauben.
Bodyshaming
Das ist Kritik am Überkonsum. Bodyshaming wäre es, wenn ich mich über jemanden ob seiner Körpergröße oder ein körperlichen Behinderung / Entstellung lustig mache. Nicht wenn ich kritisiere, dass ein halber Supermarktparkplatz auf Grund von fast schon obszönen Überkonsums zu fett ist, um in die eigenen SUVs zu klettern.
Das Rad bleibt heute stehen, ich fahre mit dem Auto. Einen echten Grund habe ich nicht, Faulheit eben. Dabei muss ich an eine Anekdote aus dem Geschichtsunterricht denken, von Bauern im Mittelalter, die im Winter das Saatgut für die nächste Aussaat aßen, und dann gab es natürlich keine Ernte mehr, und dann verhungerten sie. Das sollte sicher eine Metapher sein, seid heute emsig und genügsam, dann wird’s morgen besser.
Aber die war an meine Schulklasse, und besonders an mich, verloren.
Auf dem Weg zur Arbeit halte ich noch kurz beim Supermarkt. Auf dem Parkplatz schieben fette Wänste Einkäufe in fette Autos, der Konsum von heute das Problem der Ärzte und Krankenpfleger von morgen, und ich dann dazwischen, mit einem Einkaufskorb voller als Lebensmittel getarnter Industrieabfälle, und die Hafermilch, ein Liter Ablassbrief. Ein fettnackiger Typ bleibt im riesigen Ford, während seine Frau einkauft, und weil es heute etwas wärmer ist, läuft der Motor die ganze Zeit, sicher für die Klimaanlage. Ich werfe noch einen traurigen Blick auf das riesige Auto und seine Fahrer, ein groteskes Mahnmal an den Überfluss und die Völlerei, zwei Tonnen Mensch und Stahl und Plastik, jede Meile ein Mittelfinger an die Nachwelt.
Auf der Arbeit ist nicht viel los, aber dennoch schaffe ich es, einen unliebsamen Termin auf morgen zu schieben, ohne eine gute Ausrede zu haben, außer “fühl ich heut nicht so”, bin von mir selbst genervt, aber ändere nichts daran. Ein Tick und ein Tock und der Arbeitstag ist vorbei, gelernt hab ich nichts, geschafft auch nichts, geschaffen erst recht nicht.
Dann sitze ich auch schon wieder im Auto und hasse mich dafür, nicht die Ausfahrt zum Fitnessstudio genommen zu haben, der Sportrucksack auf dem Beinfahrersitz erinnert an mein Versagen, und stehe an einer roten Ampel, zweite Ampelphase schon. Vor mir Autos, und hinter mir, und links und rechts neben mir, müssten die denn alle hier sein? Vermutlich nicht, aber ich ja auch nicht.
Dann komme ich nach Hause, das Piano ignoriere ich, anstatt zu kochen werfe ich eine Pizza in den Ofen, mit Salami, das wollte ich ja eigentlich auch lassen, und anstatt noch was zu lernen setze ich mich an den Computer, auch intellektuell gibt es heute nur Fast Food.
Irgendwann liege ich dann im Bett, dann rasen die Gedanken, der Puls geht hoch, die Panik setzt ein. Die Welt zieht weiter, aber ich stagniere, und so viele Menschen um mich herum auch, fressen das Saatgut mit ganz großen Löffeln, was mit uns passiert, scheiß drauf, und wer nach uns kommt, sowieso.
Wieder nichts geschafft, wieder ein bisschen dümmer und schwächer und älter, wieder ein Stückchen Morgen für das Heute geopfert, und dabei nichtmal Spaß gehabt. Aber morgen mach ich’s besser. Diesmal bestimmt.
An einem Abend im Herbst kam meine damalige Freundin, mit der ich mir eine kleine Wohnung mit Gartennutzung teilte, zu mir und bat mich, mit ihr nach Thüringen zu fahren, wo sie einen Hund kaufen würde.
Ich vertraute ihr blind; was immer sie tat, tat sie überlegt und sorgfältig. Das, verbunden mit dem Welpenbild, das sie mir zeigte, machte mir die Entscheidung leicht. Klar, sag ich, und am nächsten Morgen sitzen wir im Auto, sechs Stunden Autobahn vor uns, um Maja abzuholen.
Maja, ihre beiden Geschwister und ihre Eltern begrüßen uns freudig am Tor, das sympathische Frauchen kommt direkt dazu und eine halbe Stunde später sitzen wir wieder im Auto, Maja auf einer kleinen Decke, eingerollt und ängstlich fiepend, weil sie ihr Rudel vermisst.
Die nächsten Wochen (und eigentlich Jahre) ist sie Mittelpunkt unseres Lebens und wir tun alles, um ihr ein neues Rudel zu geben. Wir habens nicht weit zum Wald, gehen zwei Touren am Tag, und anfangs ist sie noch ängstlich und bleibt bei uns, aber bald schon wird Winter zu Frühling und sie wird selbstbewusst genug, dass sie eine Leine braucht. Einmal entwischt sie uns, sieht irgendwo ein Reh, und zischt ab. Tief in einem Wald in der Eifel, an einem viel zu heißen und trockenem Frühlingstag, und wir suchen und rufen eine gefühlte Ewigkeit, bis sie zurück kommt und sich völlig erschöpft neben uns auf dem Waldweg auf den Boden wirft. Sie trinkt ihren Wanderwassernapf zweimal leer, SCHLOPP-SCHLOPP-SCHLOPP, das beste Geräusch das ich kenne.
Nach den Wanderungen liege ich immer mit meinem Laptop auf dem Sofa und arbeite, Maja in der Kuhle zwischen meinen Beinen, kaut genüsslich an einem Schweineohr oder schläft, ihre Schnauze auf meinem Bein, und ich weiß, dass ich alles für sie tun würde.
Unsere Wohnung lag direkt neben meiner Arbeit, und zur jeder Mittagspause um zwölf, wenn die Glocken läuteten, lief ich rüber, um eine Runde mit ihr zu gehen. Manchmal war ich etwas zu früh dran, dann konnte ich sehen, wie pünktlich zum zweiten Glockenschlag ihr herrliches Gesicht am Fenster auftauchte, damit sie Ausschau nach mir halten konnte, und immer machte mein Herz einen Satz und immer musste ich mich beherrschen, nicht loszurennen um schneller bei ihr zu sein.
Am Wochenende ist die Freundin dann meist bei ihren Eltern, für die Maja quasi das erste “Enkel” ist, und auch sie lieben und verwöhnen sie. Irgendwann kommen echte Enkel dazu und Maja findet in den Nichten und Neffen meiner Freundin neue Spielgefährten.
Irgendwann kriselt es zwischen meiner Freundin und mir, ich ziehe an die Ahr, meine Freundin zu ihren Eltern, eine knappe Stunde entfernt von mir, und wir sehen uns fast nur noch am Wochenende, und immer wenn ich freitags komme, eskaliert Maja völlig, schießt wie eine Rakete von Raum zu Raum, oder übern Hof, und immer wieder zu mir, holt mir ein Leckerli oder einen Ball den ich werfen soll, und weicht für den Rest des Wochenendes nicht mehr von meiner Seite. Wenn ich dann gehe, am Sonntagabend, zeigt sie mir die kalte Schulter, und ich küsse ihr auf die Stirn und verspreche, dass ich bald wiederkomme.
Sogar während meiner Nahtoderfahrung denke ich fast nur an sie. Einmal noch mit Maja ans Meer, wünsche ich mir nur, während um mich herum die Welt untergeht. Einmal noch mit Maja in den Wald. Bitte. “Küss Maja auf die Stirn von mir”, schreib ich meiner Freundin, bevor ich das Wasser sich mein Handy holt, aber die Nachricht geht nicht raus, und zwölf Stunden später hänge ich am Seil des Rettungshubschraubers und mir wird klar, dass mein Wunsch in Erfüllung geht. Nur zwei Wochen später sind wir in der Bretagne am Strand, und Maja schießt über den Sand und jagt ihren Ball, zeigt uns ganz aufgeregt eine Krabbe, vergisst immer wieder, dass das Wasser salzig ist und ich bin unendlich dankbar für jeden Tag und jeden Moment.
Dann ziehe ich zu den beiden, meine Wohnung ist ja weg, und wir haben noch ein gutes Jahr zusammen, viele Ausflüge zu dritt, viel SCHLOPP-SCHLOPP-SCHLOPP an Sommertagen im Wald, aber ich merke immer mehr, dass meine Freundin eigene Kinder will, dass Maja und die Neffen und die Nichten die Lücke nicht mehr füllen können, und so trennen wir uns, und ziehe ich weiter gen Norden.
Noch immer hat Maja ihr riesiges Rudel. Die große Familie meiner Ex, haufenweise Kinder jeden Alters, ihre Eltern und Geschwister, deren Partner, deren Kinder und Hunde und bald auch eine eigenes Baby; ich bin sicher Maja wird gut darauf aufpassen.
Und wenn es mir schlecht geht, und ich traurig bin und sie vermisse, und wenn ich mir wünsche sie würd wieder in der Kuhle zwischen meinen Beinen schlafen, dann finde ich Trost darin, wie gut es ihr geht, auch ohne mich.
Kann mir jemand erklären, wieso folgender Mechanismus nicht greift?
Früher dachte ich immer, dass bei schmelzenden Gletschern der Wasserspiegel steigt, also mehr Wasser verdunstet, was wiederum für mehr Wolken sorgt, was wiederum den Planeten kühlt. Was wir in den letzten Jahren festzustellen scheinen, ist dass die positiven Feedback-Loops voll reinballern, und die negativen Feedback-Loops, die das Ganze etwas abmildern könnten, dagegen kaum Wirkung zeigen.
Sommer 2019. Nach einer turbulenten Trennung und einem viel zu heißen Sommer zwischen Autos und Beton hatte ich genug vom Stadtleben und suchte mir eine günstige Wohnung in einem winzigen Weindorf gute fünfzig Kilometer von der Heimat entfernt.
Die Besichtigung konnte ich mit einer langen Radtour zuerst den Rhein herauf verbinden, bis ich an ein kleines Flüsschen, das im trockenen Juni das Flussbett nicht füllen konnte, ankam. Dieses radelte ich weiter herauf und mit jedem kleinen Dorf wuchs meine Begeisterung. Alles war grün, der Radweg perfekt gepflegt, und das Tal, anfangs weit und offen, wurde stellenweise richtig eng, sodass man zwischen steilen Felswänden durch fährt. Die umliegenden Hügel, voller Weinreben, und weiter oben, Nadel- und Mischwälder.
Dann, das Zieldorf. Der Radweg führt durch einen 235 Meter langen Tunnel unter einem riesigen Felsen und wilde Reben hängen bis kurz über Kopfhöhe über dem Weg. Der Tunnel ist schwach beleuchtet und rechts gehen abgesperrte Schächte tiefer in den Stein. Für einen Moment genieße ich die Kühle, dann verlasse ich den Tunnel und der Anblick nimmt mir die Luft. Ein alter Bahnhof, unten Sandstein und oben Fachwerk, links die Weinberge, rechts das Flüsslein, weiter rechts, mehr Weinberge. Das Dorf macht sofort einen Eindruck von Beständigkeit, davon, dass es über hundert Jahre entstanden ist und sich wohl auch die nächsten hundert Jahre nicht groß verändern wird.
Das Haus liegt in einer engen Kurve in einer Straße die nach dem Rotwein benannt ist, der dort angebaut wird, über einer alten Weinstube, die nicht mehr betrieben, aber weiterhin liebevoll gepflegt wird. Im Fenster hängt noch ein Menü, darunter eine andächtige Nachricht, die sich bei den Gästen bedankt und schweren Herzens die Schließung der Weinstube ankündigt. Man sieht ein altes Klavier, das über Jahrzehnte die Gäste unterhielt, und Sitzmöbel, die gemütlich und urig aussahen.
Tradition in jeder Fuge, und auch hier, Beständigkeit, Ruhe.
Der Vermieter ist direkt sympathisch, spricht zuerst mit dem örtlichen Akzent aber wechselt alsbald zu Hochdeutsch, und gute fünfzehn Minuten vergehen, bevor ich überhaupt die Wohnung sehe. Er erzählt mir stolz die Geschichte des Hauses, das sein Vater im frühen 20. Jahrhundert gebaut hatte, wie der Neubau entstanden ist, wie der Altbau zur Weinstube umgewandelt wurde, die der Vermieter und seine Frau betrieben, und wie er selbst eine Schlosserei im Keller hatte. Aber nun waren auch die Vermieter alt, die Weinstube geschlossen, die Kinder weggezogen, die Schlosserei bloß noch ein Hobby in einer Werkstatt hinterm Haus, wenngleich mit viel Liebe betrieben.
80 Jahre Geschichte, zehntausende Arbeitsstunden, und das Leben dreier Generationen und unzähliger Gäste in einem Haus.
Die Wohnung war okay, ist hier nicht interessant, aber der Ausblick aus dem Fenster war unbeschreiblich. Direkt hinterm Haus, ein Walnussbaum. Uralt, und seine Äste voller fetter Früchte, wuchs er direkt aus dem Fluss, der gerade nur ein Bach war, aber dennoch hörbar vor sich hinplätscherte. Auf der anderen Flussseite, eine Felswand, relativ Steil und doch voll von Wein und mit einem alten Rebenaufzug. Und ganz oben auf dem Hügel, eine kleine Burg.
“Wollense noch ‘ne Nacht drüber schlafen?” fragt mich der Vermieter, aber ich schlage direkt ein.
Vor der Heimreise sitze ich noch ein wenig hinterm Haus am Bach, sauge die Ruhe und Beständigkeit ein wie ein Schwamm. Und während ich dem Plätschern der Ahr zuhöre, denke ich nur:
“Ja, hier will ich bleiben”.
___
Ein Abend, gute zwei Jahre später. Um acht reißt der Fluss die Fensterscheiben aus dem Erdgeschoss, die Weinstube, das Klavier, zerstört. Gegen neun wird das Dach der Werkstatt weggerissen, kurz darauf gibt auch der alte Walnussbaum nach. Meine Wohnung, im ersten Stock im Neubau, steht knietief unter Wasser. Der Altbau hält sich tapfer, noch so bis Mitternacht, dann stürzt auch er ein. Teile des Neubaus stehen noch bis zum nächsten Tag, sonst könnte ich das hier nicht schreiben.
Heute ist da nur noch ein Schotterparkplatz.
Manche Fragen stellten sich fast jedem Teenager mal: wie geht es nach der Schule weiter, wie gefalle ich dem anderen Geschlecht, wie erzähle ich meinen Eltern von der schlechte Note?
Andere Fragen stellten sich wohl nur mir: wie pisse ich Ingo Berg, genannt Ingeborg, in den Briefkasten?
Die Idee ließ mich nicht los. Nachdem Ingeborg mir eine CD mit fürchterlichem Inhalt untergejubelt - und mich damit vor mindestens einem Elternteil fürchterlich blamiert hatte - wollte ich Rache.
Ingeborg lebte mit seinem Bruder einer eigenen kleinen Wohnung im Souterrain im Haus der Eltern, mit eigenem Briefkasten, und Kevin hatte die Idee, dass wir Hundestuhl sammeln und beim ihm in den Briefkasten werfen könnten.
Die Idee gefiel mir nicht. Erstens störte mich die Vorstellung, draußen rumzulaufen und Stuhl zu suchen. Das fand ich würdelos und nicht elegant. Außerdem verlangte die Ehre: wenn Exkremente in Ingos Briefkasten landen, so sollten es meine sein. Aber wie?
So ging ich dann mal am Wochenende an Ingeborgs Haus vorbei, um die Lage zu checken. Diese war ernüchternd: der Briefkasten des kleinen Einfamilienhauses war deutlich außerhalb meiner Reichweite, und zudem von der Straße aus sehr sichtbar. Also zurück zu Kevin geradelt, der gerade mit seinem Cousin aus dem Ruhrpott Nintendo zockte, und das Problem beschrieben.
Der Cousin, ohne zu zögern, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt: "Ja dann musst du den halt pissplatteln." Was? "Ja pissplatteln. Also Pisse in einer Rohlingspindel einfrieren und die Pissplatte dann den Briefschlitz stecken."
Es war so elegant. Es war so stilvoll. Es war, so darf ich heute sagen, fast schon nobel. Als würde ich ihn mit seinen eigenen Waffen schlagen. CD-förmige Rache. Gelbe, gefrorene Gerechtigkeit.
Und wie es der Zufall will, hat Kevin in seiner Garage eine große Gefriertruhe, und so frieren wir unsere Pisse in zwei Spindeln von CD-Rohlingen ein. Kevin hat zwar keine Rachegelüste, aber wie ein Golden Retriever will er einfach dabei sein und mitmachen.
So ziehen wir los, perfide Postboten der Pisse.
Nach der Lieferung frag ich Kevin, wer seine Zustellung erhalten hat, und Kevin erklärt, dass er sich einen beliebigen Nachbarn ausgesucht hat, damit das Verbrechen willkürlich wirkt, damit niemand auf uns kommen kann. Ich halte die Logik für so wasserdicht wie die Deckel der CD-Spindeln, aber weil wir dumme Teenager sind, können wir es natürlich nicht bei unserem perfekten Verbrechen belassen.
Stattdessen machen wir "Pissdisking" (denn wir sind cooler und moderner als die Ruhrpottkinder) zu einer Art Sport. Täglich landen irgendwo unsere Disks in irgendwelchen Briefkästen. Jede leichte Provokation wird mit einem nassen Briefkasten geahndet, und für jeden Racheakt kommen drei weitere, widerlich-willkürliche Zerstörungsakte hinzu.
Dann flogen wir zu nah an die Sonne, Peekarus, sozusagen:
Statt es einfach dabei zu belassen, gingen wir zu Ingo, um uns mehr leere Spindeln zu besorgen. Durch seinen Bruder hatte er davon haufenweise über. Die Dreistigkeit dieser Idee gefiel mir besonders und nach ein paar Wochen hatten wir zehn Spindeln zusammen. Um beim Verteilen der Pissdisks nicht aufzufallen, haben wir sie Prospekte gesteckt und sahen für Beobachter aus, wie Jungs die sich etwas Taschengeld dazu verdienen.
Bis uns einer von Ingos Nachbarn, unser erstes willkürliches Opfer, bei frischer Tat ertappte.
Prospekt in den Briefkasten, Tür geht auf, der Herr nimmt die Pissplatte direkt aus dem Briefkasten, sieht uns, wir rennen weg. Er erzählt die Geschichte rum, von den Jungs die CDs auf Pisse in Briefkästen verteilen, und irgendwie hört Ingo davon - und zählt natürlich eins und eins zusammen.
Irgendwann radel ich dann nach der Schule nach Hause und Ingos Bruder fängt mich ab, verpasst mir die Prügel meines Lebens.
Verdient? Ja, vermutlich.
Ein Sommer, etwa 2009. Nach zwei kurzfristigen Beschäftigungen beziehe ich wieder Hartz 4 und bin abhängig vom Jobcenter.
"Ach Mensch, Sie sind ja noch jung, machen Sie doch einen Computerkurs!", sagt die überdurchschnittlich bemühte Jobcenter-Mitarbeiterin zu mir.
Ich freue mich über die Gelegenheit, frage mich aber, ob es wirklich in ganz Köln kein ähnliches Kursangebot gibt, und so fahre ich - bezahlt vom Jobcenter - 40 km pro Strecke Zug.
Die Erwartungen wurden klar an mich kommuniziert: sechs Wochen, acht Stunden am Tag, maximal ein Fehltag, am Ende gibt es eine Prüfung. Bei Bestehen gibt es ein Zertifikat. Dieses, so meine Bearbeiterin, könne mir helfen, eine Berufsausbildung zu finden. Spoiler: konnte es nicht.
So sitze ich frohen Mutes im Zug, trotz der infernalischen Hitze und studiere den Stundenplan: Die erste Woche befasst sich mit Word. Okay. Woche zwei betrifft Excel. Das könnte interessant werden. Dritte Woche: Computer. Okay, was auch immer das heißt. Und so weiter.
Vor der Bildungseinrichtung, die an einer vielbefahrenen Kreuzung in Bahnhofsnähe liegt, pellt sich ein Ungetüm aus Fleisch aus einem winzigen Peugeot 106. Der Mann, zwei Meter groß und mindestens zweihundert Kilo, müht sich keuchend aus seinem Auto und ist Sekunden später von dicken Zuckerwattewolken aus seinem Vaporizer umgeben. Ich nicke ihm zu, während ich an ihm vorbei die Schule betrete. Der Klassenraum ist auf einem kleinen Lageplan, den mir das Jobcenter mitgegeben hat, eingezeichnet.
Ich setze mich in die zweite Reihe, da sitze ich am liebsten. Der Fleischkoloss von vor der Tür kommt in die Klasse und setzt sich direkt vor mich. Sein Maurerausschnitt ist so lang wie mein Unterarm und sein Gestank unerträglich.
Der Dozent kommt rein, stellt sich vor, wir starten eine Vorstellungsrunde. Ich lerne, dass der Zuckerwattewolkenmann Ronny heißt und den Kurs zum dritten Mal besucht. Er hat sechs Kinder und beim den ersten Versuch war eines krank, beim zweiten hat er die Prüfung nicht geschafft. Der Rest der Klasse ist wie ich: orientierungslose Mittzwanziger am Rande der Gesellschaft, die wider jeder Vernunft etwas Hoffnung in der Maßnahme sehen.
Der Dozent macht uns Mut, sagt er habe den Kurs selbst mal absolviert, also wisse man ja nie. Dass er einen BA in Wirtschaftsinformatik hat und den Kurs mitgestaltet hat, verschweigt er erstmal.
Wir versuchen, auf den uralten ThinkPads dem Unterricht zu folgen, aber die Bildschirme sind nicht hell genug und es ist schwierig, irgendwas zu erkennen. Dennoch kennen wir nach einer Woche so etwa die Basics von Word.
Die nächste Woche, der Dozent ist krank. Spontan ziehen wir das Modul "Computer" vor. Der Vertretungslehrer muss seine Aufmerksamkeit zwischen drei Klassen aufteilen, kommt rein, gibt uns den Stundenplan für die Woche. Dieser bringt mich noch heute zum Lachen:
- Montag - Betriebssysteme
- Dienstag - Computerhardware und Elektrotechnik
- Mittwoch - vernetzte IT-Systeme (LAN, WLAN)
- Donnerstag - Programmierung in Java
- Freitag - Wiederholung und Modulprüfung
Na gut, das wird ja eine interessante Woche. "Die Laptops braucht ihr diese Woche nicht", sagt er. Wir bekommen einen kurzen Text zu Betriebssystemen. In zwei Absätzen wird erklärt, was Windows und was OSX ist. Ronny dreht sich um und erklärt uns, dass wir den zweiten Absatz ignorieren können, denn in der Prüfung kommt nur Windows dran.
Recht hat er, in der Prüfung wird es nur eine Frage zu Betriebssystemen geben: "Welches ist ein Betriebssystem? Windows, Word, HTML, oder WLAN?"
Die restlichen Tage gehen wir mit ähnlicher Tiefe an. Kurze Texte, die mit maximal zwei Fragen in der "Modulprüfung" abgefragt werden. Fast acht Stunden Langeweile am Tag, der Dozent weit und breit nicht zu sehen. Die anderen Teilnehmer sind klüger als ich, tragen sich morgens in die Liste ein und hauen nach Ausgabe der Texte ab. Ronny und ich sind bemüht und bleiben. Ich komme mir wie ein Vollidiot vor.
Freitags kommt die Prüfung (90 Minuten für 10 Multiple Choice Fragen). Ohne Aufsicht. Kurz vor Feierabend, der Lehrer kommt kurz rein, teilt uns das Ergebnis mit. Alle haben bestanden, niemand freut sich.
Die Lernmittel sind unter aller Sau. Es gibt nur 40 Laptops für 3x20 Schüler, weil man eben mit hoher Abwesenheit rechnet. Hilft aber in der erste Woche nicht, wenn die Anwesenheit noch gut ist. Die Unterrichtsräume sind eine reine Zumutung, viel zu eng besetzt, nie im Leben konform mit Brandschutz. Unser Klassenraum ist direkt neben der einzigen Toilette, und so dürfen wir, 2-3 mal täglich, Ronny zuhören, der laut stöhnend schmerzhafte Arschentbindungen durchleben muss.
Die nächste Woche. Excel. Oder Powerpoint, keine Ahnung mehr. Nur noch zwei Drittel der Klasse sind erschienen, ich freue mich, denn so ist die Luft nicht mehr ganz so stickig und nicht mehr ganz so voll mit Scheißepartikeln, Deo und Zigarettengestank. Der Dozent der ersten Woche ist wieder da, aber auch er muss seine Zeit zwischen drei Gruppen aufteilen. Wenigstens gehen die Office-Kurse etwas in die Tiefe, und wenigstens haben wir für diese Laptops. Yay.
Ronny hat sich mittlerweile den Spitznamen "der Professor" verdient. Der Einäugige unter den Blinden. Während der Rest mit Summenformeln überfordert ist, unterhält er sich mit dem Dozenten über Pivot Tabellen und VBA. Wenn wir dumme Fragen stellen, erklärt er uns das Zeug geduldig. Mir wird klar, dass ich ihn den Kerl zu sehr verurteile und ich überlege, wie mein Leben wohl aussähe, wenn ich mich auch um sechs Kinder kümmern müsste.
Nach sechs Wochen gibt es eine Abschlussprüfung. Etwas Office, ein paar Fragen zu Mäusen und Tastaturen und 1:1 dieselben Fragen aus der "Computer"-Woche. Die Auswertung dauert etwa eine Woche, dann bekommen wir das Zertifikat.
Zum letzten Mal sitze ich im Zug nach Hause und reflektiere. Wieder sechs Wochen verschwendet, denke ich mir. Kein echter Erfahrungsgewinn, den Steuerzahler wieder um hunderte Euros beraubt, und auch das Zertifikat, das mir "Fortgeschrittene Kenntnisse in IT, Programmierung und MS Office" bescheinigt, wird bei Bewerbungen so nutzlos sein, wie ich mich fühle.