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Kurzgeschichte: Der fantastisch-verworrene Vormittag des strukturierten Herrn Schnuse

Ich dachte, dass ich zur Abwechslung mal eine kleine Kurgeschichte poste. Falls das nicht gewünscht ist, kann's auch wieder entfernt werden.

Der fantastisch-verworrene Vormittag des strukturierten Herrn Schnuse

Sacht, ganz sacht, wie das Wiegen eines kleinen Bootes bei leichtem Seegang, schwankten die Bananen an Kasse 2 bei jedem Stoppen des Kassenbands. Kürzere Bandimpulse ließen die Wellen höherschlagen und bald schon stand das Wasser erst knöcheltief, dann knietief in den Bananen. Nicht mehr viel fehlte, um das Boot endgültig zum Kentern zu bringen. Siegmar Schnuse, der ebenfalls an der Zwei stand und seine Einkäufe auf das Band lud, beobachtete die Odyssee und ihn ergriff beim Anblick des Bananenbootes die Seekrankheit. Fester, immer fester krallte er sich an seinen sicheren Gitterhafen, um nicht über Bord zu gehen. Wie schlimm das sein müsste, dachte er sich, schiffbrüchig von Haien gefressen zu werden oder – noch schlimmer – auf einer einsamen Insel zu stranden, auf der es nichts außer Bananen gab.

Herr Schnuse kaufte nur Dinge, die sich nahtlos aufs Kassenband legen ließen. Eine Packung gefrorene Windbeutel, Spaghetti, vielleicht eine Gurke, wenn sie ausnahmslos gerade war und zwischen den eckigen Kartons Platz fand. Aber Bananen, die hatten im geordneten Leben Schnuses nichts zu suchen. Herr Schnuse setzte das Beladen des Bandes fort, als die Dame vor ihm die Bananen verstaut hatte. Als würde er ein Containerschiff beladen, hob er mit seinen kranigen Händen das Salz aus dem Wagen und platzierte die Packung auf dem Band. Daneben zwei Packungen Butter, da sich die kurzen Seiten übergangslos an die lange Seite der Salzpackung fügten. Die Kasse begann aufs Neue ihre piepsende Symphonie. Herr Schnuse packte die Einkäufe rhythmisch in seine Tasche, bezahlte passend in Bar, faltete den Beleg ins hintere Fach seines Portemonnaies und machte sich auf den Heimweg.

In die entgegengesetzte Richtung flog zu genau dieser Zeit eine Fliege, deren Leben ein jähes Ende in Herrn Schnuses Auge fand. Es war ihm nicht klar, ob dies ein Unfall war, vielleicht eine kurze Unaufmerksamkeit im Flug, die zustande kam durch ein Hantieren am Kassettendeck, oder ob es eine suizidale Aktion der Fliege war, die möglicherweise zuerst ihren Job, dann ihre Familie und letztendlich den Lebenswillen verloren hatte, nur um sich jetzt im dunklen Blau von Herrn Schnuses Auge zu ertränken. Jedenfalls war er verärgert, dass sein sonst problemloser Supermarkt-Wohnhaus-Weg von einer Fliege im Auge so durcheinandergerüttelt wurde. Herr Schnuse blinzelte, rieb, tränte und hatte pünktlich zum Ankommen am Haus die letzten Fliegenteile geborgen.

Aus seinem Briefkasten starrte ihm trotz des Bitte-keine-Werbung-Zettels ein roter Pizzawerbezettel neugierig entgegen.

»Wenn du dienstags zwei bestellst, dann musst du nur eine bezahlen«, piepste ihm der Zettel entgegen, »und außerdem liefern wir jetzt auch schon ab zwölf Euro Bestellwert und …« Herr Schnuse beendete den Werbevortrag mit dem Zerknüllen des Zettels und brachte ihn zum Mülltonnenabstellplatz. Dort war er erleichtert, dass nicht wieder jemand seine Ordnung durcheinandergebracht hatte (rechts vorne die Papiertonnen, dahinter die Gelben, links Restmüll, vorne erster Stock, dann der zweite und so weiter, ganz hinten der Biomüll). Seine Zufriedenheit hielt nicht lange, da Herr Schnuse beim Entsorgen des Pizzawerbezettels in der Papiertonne etwas fand, das dort nichts zu suchen hatte. Eingeklemmt zwischen einem Pizzakarton und einer zerdrückten Packung Spülmaschinensalz hing eine Bananenschale und Herr Schnuse wunderte sich, wie diese dort gelandet war. Pure Bosheit oder grobe Dummheit kamen ihm in den Sinn, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand hier aus dem Haus in der Lage war, einen so groben Verstoß zu vergehen. Die einzig logische Täterin, die ihm einfiel, war die alte Seidel aus dem vierten Stock. Die hatte er am vergangenen Abend mit Krücken gesehen und konnte sich jetzt dank des Corpus Delicti zusammenreimen, was ihr zugestoßen sein musste. Ohne etwas Böses zu denken, hatte sie das Haus verlassen, übersah – wahrscheinlich aufgrund des hohen Alters oder einer Ablenkung – die Bananenschale am Boden, rutschte und fiel. Mit letzter Kraft entsorgte sie die Bananenschale, hatte diese jedoch aufgrund ihres durch den Fall widerfahrenen Schädel-Hirn-Traumas in die falsche Tonne geworfen. Nachdem Herr Schnuse den Fall aufgeklärt hatte, sorgte er mit dem korrekten Entsorgen der Bananenschale für Ordnung.

Er nahm seine Einkäufe, stieg die Stufen in den ersten Stock, richtete die Fußmatte der Heinkens wieder parallel aus, stieg die Stufen in den zweiten Stock und betrat seine Wohnung. Aus der Kommode gleich rechts im Gang griff er sich Desinfektionstücher, rieb seine Hände, dann akribisch die eingekauften Boxen, dann nochmal die Hände und entsorgte die Tücher im Müll neben der Kommode. Bakterien- und virenbefreit trug Herr Schnuse sein Einkaufsgut zur Speisekammer, wo beim Umlegen des Lichtschalters die Glühbirne durchbrannte. Herr Schnuse seufzte. Er ging zurück zur Wohnungseingangskommode, unteres Fach, dort von links nach rechts: kleine Glühbirnen für Backofen und Kühlschrank, größere für das Licht im Bad über dem Spiegel, große für die Lampen an der Decke. Von Letzteren jetzt eine weniger. Herr Schnuse seufzte ein zweites Mal, nahm einen Stuhl aus der Küche und ging zurück zur Speisekammer. Den Stuhl platzierte Herr Schnuse unter der Deckenlampe, seufzte ein letztes Mal und erklomm den Stuhl. Die meisten Unfälle – oft mit Todesfolge – passieren im Haushalt, dachte sich Herr Schnuse beim Austauschen der Glühbirne und starb nicht. Er stieg vorsichtig vom Stuhl, trug ihn zurück in die Küche und wurde plötzlich übermannt von einer tiefen Erschöpfung, was aufgrund der vielen Vorkommnisse der letzten Stunde durchaus nachvollziehbar war.

Herr Schnuse hatte in seinem halblangen Leben gelernt, dass in solchen Momenten ein kurzer Spätvormittagsschlaf helfen konnte und beschloss, diese Möglichkeit zu nutzen. Im Schlafzimmer hängte er Jackett, Hemd und Hose in den Schrank, legte sich bettmittig und schloss die Augen.

Langsam schlummerte Herr Schnuse in einen grünen Traum. Vor ihm stiegen haushohe Farne aus dem Boden, wohlgeordnet wie Straßenlaternen. Sie waren überall in der prähistorischen Sumpflandschaft. Herr Schnuse watete weiter voran (wie war er nochmal hierhergekommen?), seine Hosenbeine saugten durstig das Sumpfwasser bis zur Kniekehle (hatte er sich nicht ausgezogen?) und aus dem vielgliedrigen Farn neben ihm starrte ihn ein dicker, blauer Vogel mit langer Schnauze an (hatten die nicht normalerweise Schnäbel?). Der urzeitliche Schrei eines Rasenschneiders verjagte den Vogel und riss Herrn Schnuse wieder aus dem Traum. Es roch grasig. Herr Schnuse ging erzürnt ans Fenster und entdeckte im Garten gegenüber das Rasenschneidermännchen, das aufs Neue einen Schrei ausstieß. In der Ferne antwortete ein Weibchen. Bei diesem Lärm konnte man nicht schlafen, dachte sich Herr Schnuse, schloss das Fenster und beschloss, die Fußabtreter der Nachbarn auf Parallelität zu prüfen.

Säuberlich schlüpfte er zurück in seinen Anzug und verließ die Wohnung. Im dritten Stock bei den Möllers war alles in Ordnung. Zufrieden stieg Herr Schnuse weiter zur bananenverletzten Seidel in den vierten Stock. Auch hier gab es kein Problem mit dem Fußabtreter, jedoch hatte sie ihre Schuhe vor der Wohnungstüre abgestellt, was Herr Schnuse als großes Sicherheitsrisiko sah. und er dachte sich, dass doch ausgerechnet die Seidel, die erst kürzlich sehr wahrscheinlich über eine Banane gefallen war, von solchen Gefahren wissen müsste. Herr Schnuse machte sich eine innerliche Notiz, später eine äußerliche Notiz an der Tür der alten Seidel anzubringen und ging wieder hinunter.

Zurück im zweiten Stock begrüßte ihn ein Mensch, der seinem weiten Lachen nach zu urteilen entweder einen guten Tag hatte oder zeigen wollte, dass Zähnebleichen funktionierte.

»Herr Schnuse«, sagte der eher junge Mann und streckte seine Hand in Schnuses Richtung, »Mandelkorn mein Name, ich bin hier, um mit Ihnen über PyonPlus3 zu sprechen. Darf ich reinkommen?«

»Über wen?«

»PyonPlus3 ist unser brandneues Smart-Internet-Home-System. In Sekundenschnelle sind Sie weltweit vernetzt und gerne machen wir auch ihre ganze Wohnung smart.«

»Was wollen Sie machen?«

»Herr Schnuse, ich bin hier, um ihr Leben einfacher zu machen. Wenn Sie mich kurz reinlassen, dann erkläre ich Ihnen alles.«

Gerade an Tagen wie heute wäre ein einfacheres Leben gut, dachte sich Herr Schnuse. Er öffnete die Wohnungstür, ging hinein mit dem gutfrisierten, stark gegelten Mandelkorn und desinfizierte seine Hände. Herr Mandelkorn lehnte das Desinfektionstuch freundlich ab und Herr Schnuse empfand weniger Verlangen nach einem PyonPlus3.

Er leitete den Mandelkorn ins Wohnzimmer, setzte ihn aufs Sofa und sich auf den Sessel gegenüber. Der parfümierte Mandelkorn öffnete seinen Aktenkoffer und verteilte allerlei Unterlagen mit bunten Tabellen auf dem Wohnzimmertisch zwischen den beiden.

»Herr Schnuse, wahrscheinlich haben Sie schon von uns gehört …«

»Nein.«

»Gut, dann erkläre ich Ihnen, wer wir sind. Wir haben es zu unserer Aufgabe gemacht, das Leben der Menschen einfacher zu machen und das schon ab 49,99 Euro monatlich. Wir von PyonPlus3 haben eine neue Technologie entwickelt, die schon nach wenigen Tagen ihre Arbeitsmuster analysiert und …«

Herr Schnuse langweilte sich. Außerdem lenkte ihn ein kleiner schwarzer Punkt zwischen Mandelkorns Zähnen ab. Was war das denn? War das vorhin schon da? Mohn? Dieser Mandelkorn wirkte eher wie eine Chia-Person. Herr Schnuse lehnte sich weiter nach vorn und versuchte einen besseren Blick auf Mandelkorns Zahnzwischenraumkorn zu bekommen. Dieser sprach schnell und viel und es war nicht einfach, das schwarze Etwas zu analysieren.

Schnuse beugte sich über den Tisch und befand sich jetzt direkt vor Mandelkorns Mundhöhle. Wo war der schwarze Punkt abgeblieben? Hatte er sich das nur eingebildet? Herr Schnuse rief in die Höhle, aber es hallte nur sein eigenes Echo zu ihm zurück. Behutsam stieg Herr Schnuse in die mandelkornsche Höhle und beleuchtete die dunklen Ecken. Es roch minzig. Schnuse lief vorsichtig entlang der weißen Wand und suchte seinen schwarzen Schatz. Und da war er: rechts oben zwischen dem ersten und dem zweiten Molaren. Herr Schnuse stellte seine Lampe auf den Grund und stieg vorsichtig auf die untere Zahnreihe, um nach dem schwarzen Unbekannten zu greifen. Dieses steckte fester, als es aussah und Herr Schnuse hing schon bald mit seinem gesamten Körpergewicht daran. Erst langsam, dann immer schneller löste es sich aus dem Zahnzwischenraum, und Herr Schnuse fiel – zum Glück weich und feucht – auf den zungigen Untergrund der Höhle. Beim Fall jedoch verlor Herr Schnuse das schwarze Etwas, das durch einen Luftzug tiefer in die Höhle gesogen wurde und dort verschwand.

»Herr Schnuse?«

»Hm?«

Der Mandelkorn hatte Herrn Schnuse aus der Höhle zurück an den Verhandlungstisch geholt.

»Wenn Sie noch heute unterschreiben, dann richten wir Ihr exklusives PyonPlus3 schon in spätestens sechzig Werktagen ein. Zusätzlich erhalten Sie ein brandneues Smartphone, mit dem Sie schon von unterwegs ihr Zuhause steuern können.«

Vielleicht war Herr Mandelkorn kein guter Verkäufer oder Herr Schnuse im Allgemeinen nicht sehr interessiert an smarten Homes, denn schon bald drifteten seine Gedanken wieder hinfort.

»Außerdem sind wir vierundzwanzig Stunden täglich für Sie erreichbar, wenn sie Probleme mit PyonPlus3 haben sollten.«

Herr Schnuse griff in die Innentasche seines Jacketts, zog eine Banane hervor und erschoss den Mandelkorn. Die Kugel drang durch Mandelkorns Höhle ein und verließ ihn durch den Hinterkopf. Mandelkorns Blut färbte die Wohnzimmerwand in ein dunkles Rot und auch aus dem Teppich würde Herr Schnuse diese Flecken nie wieder entfernen können. Panik überkam ihn. Was hatte er getan? Er eilte zur Kommode, holte Desinfektionstücher, wischte seine Fingerabdrücke von der Banane. Mandelkorns Blut hatte zwischenzeitig seine Füße erreicht, er stand halbgroßzehtief in Mandelkorn. Und wohin eigentlich mit der Leiche? Herr Schnuse hatte noch nie einen Krimi gelesen und einen Fernseher hatte er auch nicht. Vielleicht in den Biomüll? Aber dafür war der Mandelkorn zu groß. Kleinschneiden und in der Toilette wegspülen? Mandelkorns Blut stand mittlerweile kniehoch und stieg immer schneller. Weiter hinten im Gang trieb das schwarze Etwas. Herr Schnuse nahm Mandelkorns Stift, der auf dem Tisch lag und schrieb seine Abschiedsnotiz: »Frau Seidel, bitte keine Schuhe vor der Wohnungstüre lagern!« Dann nahm er die Banane und erschoss sich selbst.

»Sie müssen nur noch hier unterschreiben«, sagte der Mandelkorn. Herr Schnuse überlegte nicht lange. In schon spätestens sechzig Werktagen würde er sich keine Gedanken mehr über falsch entsorgte Bananen, Haushaltsunfälle und Gespräche mit langweiligen Vertretern machen müssen. Dann würde PyonPlus3 für Ordnung sorgen.

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  • Herrlich unterhaltsam, und auch sehr lustig! Schade dass man keine Benutzer abonnieren kann, aber ich werde Ausschau halten, falls du noch mehr posten solltest :))

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